Der Wilde von Aveyron“
Jean Marc Gaspard Itard -

1.1.1 Theoretische Zusammenhänge

„Jean Marc Gaspard Itard gilt als der Urheber einer modernen Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung. Er setzte seinen Erziehungsoptimismus gegen die in seiner Zeit vorherrschende medizinisch- psychiatrische Sicht von Behinderung. Der Psychiater Pinel sah Victors Zustand als organisch verursachten Intelligenzdefekt, Itard als Medico-Pädagoge dagegen als einen Mangel an Erziehung, als sozial verursachte Verwahrlosung.
Seit Itard wird der geistig behinderte Mensch als erziehbar gesehen. Mit der Erziehung von Victor stellte er eine richtungsweisende Verbindung von Medizin und Pädagogik her, die für die Entwicklung zur heutigen Heilpädagogik wegweisend war.“ ( T. Thesing, 1999, 54/55)


Biographisches
J. Itard, geb. 1774 in Frankreich, studierte Medizin, wurde im Jahre 1800 im Alter von 26 Jahren zum Chefarzt am kaiserlichen Taubstummeninstitut berufen. In diesem Jahr übernahm er auch die Erziehung des so genannten „Wilden von Aveyron“.
Über den Zustand und die Entwicklung dieses Kindes veröffentlichte er mehrere Berichte, die ihn in Frankreich und in ganz Europa bekannt machten.

Itard hat viele Verdienste in der Förderung von sprachgestörten Kindern, in der Behandlung von Stotterern erworben. Er erfand das Audiometer, mit dem Resthörfähigkeiten gemessen werden können und führte das Lippenlesen ein.
Seine enorme Bedeutung erlangte Itard aber vor allem als Pädagoge in der Behandlung von Taubstummen und als erster Pädagoge der Oligophrenie (Schwachsinn), beispielhaft im Bemühen um die Förderung des außergewöhnlichen „Victor“.
1806 gab Itard seine Versuche auf, diesem „jungen Wilden“ das Sprechen beizubringen und ihn in die Gesellschaft zu integrieren. Der Junge blieb jedoch bis zu seinem Tod (1829) im Haus Itards, betreut von seiner Haushälterin. Itard starb 1838.


Victor, der Wilde von Aveyron
Der Name und die Bekanntheit von J. Itard ist eng mit Victor, dem „Wilden von Aveyron“ verbunden. Victor ist neben Kaspar Hauser sicherlich einer der bekannteste Fälle von Verwilderung „und durch die wissenschaftliche Beschreibung auch als echt zu werten“ (T. Thesing, 1999, 47).
1797 wird der Junge in Südfrankreich erstmals von Bauern entdeckt. Er wird mehrmals für kurze Zeit gefangen, kann aber wieder fliehen.
1800 wird der ungefähr 10 bis 12 Jahre alte Junge in ein Waisenhaus gebracht, er spricht nicht, sondern stößt nur unartikulierte Schreie aus.

Soziale Verhaltensweisen waren nicht zu entdecken. Er zeigte auch keine Gefühle der Dankbarkeit, des Mitleids oder der Scham. Er war sehr misstrauisch anderen Menschen gegenüber.
Der Junge wurde von verschiedenen Fachleuten (auch von P. Pinel, dem Leitenden Arzt an der Irrenanstalt für Männer in Bicêtre bei Paris und der damals führenden Autorität auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten) als idiotisch diagnostiziert und als hoffnungsloser Fall eingestuft, bei dem Erziehung keinen Erfolg haben könne. Im Gegensatz dazu sah Itard bei dem „jungen Wilden“ eine sozial erzeugte Idiotie, die er für heilbar hielt. Diese Auffassung wollte er durch ein pädagogisches Experiment beweisen und nahm ihn bei sich auf.

In einem ersten Gutachten (1801) beschreibt Itard den Entwicklungsstand des Jungen. Die Sinnesfunktionen des jungen Wilden befänden sich in einem solchen Zustand der Stumpfheit, dass er in dieser Hinsicht manchen Haustieren unterlegen wäre; die ausdruckslosen Augen würden träge von einem Gegenstand zum anderen gleiten und zudem wären diese so wenig geübt, dass sie einen plastischen Körper nicht von einem gemalten unterscheiden könnten; sein Gehörorgan würde auf die stärksten Geräusche ebenso wenig reagieren wie auf die zarteste Musik. Der Tastsinn beschränke sich auf die mechanischen Funktionen des Betastens von Gegenständen. Er wäre unfähig zur Aufmerksamkeit, außer wenn es um Gegenstände seiner Bedürfnisse ginge; folglich auch unfähig zu irgendwelcher geistigen Tätigkeit. Er besitze weder Gedächtnis, noch Urteil, noch Nachahmungsgabe; es würde ihm noch nicht einmal gelingen, eine Tür zu öffnen oder auf einen Stuhl zu steigen, um Nahrungsmittel zu holen, die man der Reichweite seiner Hand entzogen hätte; schließlich fehle ihm jedwedes Mittel der Verständigung: die Gesten und Bewegungen seines Körpers verrieten weder Ausdruck noch Absicht.
(vgl. Malson, 1972, 117 ff.)


Aufgaben:
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1. Wie kann der beschriebene Entwicklungsstand des Jungen (seine Sinnesfunktionen und geistige Funktionen) begründet werden? Was war Ursache für seinen Zustand?
2. Welche Sichtweisen hatten Itard bzw. Pinel von dem vorliegenden Verhalten?
3. Auszüge mit weiteren Ergebnissen aus dem Gutachten können von einzelnen Schülern der Klasse vorgestellt werden (

1.1.2 Praktische Umsetzung

Die Erziehungsmaßnahmen
In den Jahren 1801 bis 1805 war es Itard durch systematische pädagogische Bemühungen gelungen, dass der verwilderte, geistig behinderte Junge erste soziale Verhaltensweisen zeigte und im Bereich der Lebensfertigkeiten vieles erlernte.
Itard legte der Erziehung von Victor fünf Leitsätze zu Grunde (vgl. Thesing, 1999, 49-52 und Thesing/Vogt, 1997, 141-142):

(1) Er wollte den Jungen für das Leben in einer Gemeinschaft gewinnen, er sollte es angenehmer als sein vorheriges Leben empfinden.

Bevor Victor von Itard aufgenommen wurde, hatte er das Leben unter Menschen vorwiegend als etwas Negatives erlebt. Im Heim für Taubstumme hatte man für sein gestörtes Verhalten kein Verständnis; Belästigungen durch Neugierige und Misshandlungen von anderen Kindern führten dazu, dass sich seine anfängliche Überaktivität in schwere Apathie wandelte. Itard veränderte den Umgang mit dem Jungen völlig und versuchte auf seine Bedürfnisse einzugehen. Seine Versorgung und Pflege übernahm die Haushälterin. Durch Nahrung und Naturerlebnisse (Wind, Wolken, Sturm, Schnee, Sonne) konnte er aus seiner Lethargie gerissen werden. Itard versuchte Victor dahin gehend zu beeinflussen, weniger wild herumzurennen, mäßiger zu essen und kürzer zu schlafen.

(2) Die Sinnestätigkeit und das Empfindungsvermögen sollten durch starke Stimulierungen geweckt werden.

Itard versuchte die geringe Ausprägung der Sinnesorgane zu stimulieren. Victor zeigte sich beispielsweise unempfindlich gegen Kälte und Hitze, neben seinem Kopf abgefeuerte Pistolenschüsse lösten keine Reaktion aus, wohl aber das leise Knacken einer Nuss. Itard versuchte, die Sensibilität zu erhöhen, indem er Victor warm kleidete, ihm täglich ein heißes Bad verordnete, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Töne oder Gegenstände lenkte. Er stelle dann auch später etwa eine erhöhte Empfindlichkeit des Tastsinnes gegenüber heißen, kalten, rauen oder harten Gegenständen fest.

(3) Der gedankliche Horizont sollte erweitert werden, indem neue Bedürfnisse geweckt und die Beziehungen zur Umwelt verstärkt wurden.

Itard versuchte, Victor für Gegenstände, für Spielzeuge und Süßigkeiten zu interessieren. Er wollte sie als Verstärker einsetzen, es gab aber massive Probleme. Denn Victor interessierte sich für keine Art von Spielzeug, nur die Einbeziehung von Nahrungsmitteln verstärkte sein Interesse. Der Junge fand auch Gefallen an Ausflügen in Parks, erkannte nach einiger Zeit die Vorbereitungen, z. B. Hut auf dem Kopf und zog sich dann selbstständig an.
Itard machte den Jungen auch mit neuen Menschen bekannt. Durch all diese Bemühungen gelang es ihm, dass Victor erste Zeichen von sozialem Verhalten zeigte.

(4) Er sollte zum Gebrauch der Sprache geführt werden und diese als absolut notwendig erleben.

Dieses Anliegen war für Itard aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit von besonderer Bedeutung. Er gab aber zu, in diesem Bereich nur sehr geringe Erfolge erzielt zu haben.
Victors Gehör war nicht genügend entwickelt, denn er hatte in der Wildnis ein Interesse nur für Geräusche entwickelt, die sich auf seine körperlichen Bedürfnisse bezogen; menschliche Stimmen dagegen hatten für ihn zunächst kaum Bedeutung.

„Der Vokal ‚O‘ schien sein Interesse zu fesseln. Wenn jemand den Ausruf des Erstaunens ‚Oh‘ von sich gab, drehte er sich sofort um. Um dieses Interesse zu binden, gab Itard ihm den Namen Victor. Auch das Wort ‚non‘ für eine Verneinung ließ sich für die Kommunikation nutzen.“ (Thesing, 1999, 51).

Victor begann auf menschliche Sprache zu reagieren und imitierte zwar Wörter, aber er verwendete diese nicht, um etwas zu verlangen.
Wenn Victor Absichten und Wünsche hatte, konnte er diese jedoch recht phantasievoll durch Handlungen (Aktionssprache) zum Ausdruck bringen. Wenn er beispielsweise hungrig war, drängte er auf den Beginn der Mahlzeit, indem er den Tisch deckte oder der Haushälterin die Schüssel in die Hand drückte.

(5) Er sollte einfachste Denkprozesse und geistige Tätigkeiten entwickeln.

Itard ging davon aus, dass in der frühkindlichen Lebensphase alle geistigen Tätigkeiten an die elementaren, körperlichen Bedürfnisse (wie Hunger, Schlaf, Nahrung, Zuneigung) gebunden sind. Hier setzte er in seinen Bemühungen an, anschließend sollten die Denkprozesse auf andere Lerninhalte zur Anwendung kommen.

Solche abstrakteren Denkprozesse versuchte Itard mit optischen Übungen anzuregen. Victor sollte gezeichnete Gegenstände (z. B. Schüssel, Schere, Hammer) herbeiholen oder Gegenstände den Zeichnungen zuordnen. Auch wurden die Zeichnungen mit Buchstaben umlegt, um das dazugehörige Wort zu bilden. Diese abstrakteren Aufgaben konnte Victor nicht lösen. Aber bei dem Wort „lait“ (Milch) gelang es ihm, die Buchstaben zu ordnen und mit Milch in Verbindung zu bringen.


Aufgaben:

1. Nennen Sie die fünf Grundsätze auf die Itard sein Erziehungsverhalten gegenüber Victor aufbaute.
2. Wie können aus heutiger Sicht die Erziehungsmaßnahmen von Itard bewertet werden? Wo ist aus heutiger Sicht Kritik an dem Vorgehen von Itard anzumerken?


1.1.3 Anregungen und Materialien

Auszug aus dem Gutachten von 1801
„Die glänzendsten und unvernünftigsten Hoffnungen waren dem Wilden von Ayveron nach Paris vorausgeeilt. Viele Neugierige malten sich genüsslich aus, wie wohl sein Erstaunen beim Anblick all der schönen Dinge in der Hauptstadt wäre. Andererseits glaubten viele Leute, die sonst durch ihre Kenntnisse achtenswert waren, aber vergaßen, dass unsere Organe um so unbildsamer und die Nachahmung um so schwieriger sind, je länger der Mensch von der Gesellschaft und der Zeit seiner frühen Kindheit entfernt ist, dass die Erziehung dieses Individuums eine Angelegenheit von wenigen Monaten sei und dass man schon bald über sein vergangenes Leben die pikantesten Auskünfte vernehmen werde. Was aber sah man stattdessen? Ein Knabe von ekelerregender Schmutzigkeit, von spastischen Krämpfen und Zuckungen geschüttelt, ein Kind, das sich unaufhörlich hin und her wiegte wie manche Zirkustiere, das diejenigen biss und kratzte, die ihn betreuten; das ansonsten allen Dingen gleichgültig gegenüber stand und keiner Sache Aufmerksamkeit schenkte.
Man kann sich leicht vorstellen, dass ein so geartetes Geschöpf nur vorübergehend Neugier erregte. Scharenweise eilte man herbei, man sah es, ohne es zu beobachten, man urteilte über es, ohne es zu kennen, und sprach nicht mehr von ihm. Inmitten dieser allgemeinen Gleichgültigkeit vergaßen die Leiter des staatlichen Taubstummen-Instituts und sein berühmter Direktor nicht, dass die Gesellschaft, als sie diesen unglücklichen Knaben an sich gezogen hatte, ihm gegenüber unumgängliche Verpflichtungen eingegangen war, die sie erfüllen musste. Sie teilten die Hoffnungen, die ich in eine ärztliche Behandlung setzte, und beschlossen, dieses Kind meiner Obhut anzuvertrauen.“ (Itard, Gutachten und Bericht über Victor von Aveyron, in: Malson 1972, 117 ff.)

Kritische Anmerkungen
Trotz der Verdienste und fruchtbaren Impulse wird von einigen Fachleuten auch Kritisches angemerkt (vgl. Thesing, 1999, 55/56). Die Erziehung von Victor wird als ‚Geschichte einer gescheiterten Dressur‘ bezeichnet, Itard habe zu wenig Rücksicht auf die individuelle Situation des Jungen genommen, isolierte ihn mit dem Erziehungsexperiment zu sehr in seiner Wohnung, ohne für ausreichenden Kontakt zu Gleichaltrigen zu sorgen. Weitere Bedenken sprechen gegen die Form des teilweise recht strengen Erziehungsstils mit dem Einsatz von Drohungen, Liebesentzug oder körperlichen Züchtigungen.

„Diese Disziplinierungstechniken entsprachen weitgehend dem Verständnis der damaligen Zeit und sind aus heutiger pädagogischer Sicht völlig unakzeptabel. Das Spiel, heute als wesentliche Entwicklungsbedingung geschätzt, hatte im Konzept Itards keinen Platz und wurde als störend für den Lernprozess gesehen. Gründe für das Misslingen der Erziehung des „jungen Wilden“ lagen wesentlich in den Dressurvorstellungen des 18. Jahrhunderts, von denen Itard beeinflusst war. Denk- und Verhaltensweisen sollten gewaltsam und mit Druck aufgezwungen werden, ohne den Willen des Betroffenen zu berücksichtigen.“ (Thesing, 1999, 56)


Mögliche Klausuraufgaben:
1). Wer war J. Itard? Notieren Sie wichtige Aspekte seines Lebenslaufes ( Biographie)

2). Erzählen Sie mit eigenen Worten die Geschehnisse um Victor, dem Wilden von Aveyron
3.Wie sind die Hoffnungen und Wünsche, die mit dem Jungen verbunden waren, aus der damaligen Zeit erklärbar?
3. b ).Stellen Sie sich vor, ein solches „wildes“ Kind würde heute gefunden. Wie würden die Menschen reagieren? Was würde mit dem Kind geschehen? Wie würde die Presse, die Öffentlichkeit, die pädagogische Fachwelt reagieren?
4. Diskutieren Sie, welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus diesem Fall für die Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung gefolgert werden können.
5. „Victor“ ist nicht der einzige Wilde, von dem berichtet wird. Kaspar Hauser ist ein weiterer bekannter „Fall“. Einzelne Schüler können Informationen und Erkenntnisse aus diesem Fall oder aus weiteren Fällen aus der Literatur der Klasse vorstellen.
6. Fassen Sie mit eigenen Worten die Kritik, die Fachleute an dem Vorgehen Itard´s haben zusammen.

7. Bewerten Sie die Sprache und den Stildes oben widergegebenen Auszug aus Itard´s Gutachten von 1801
8. Welche erzieherischen Konsequenzen ziehen Sie aus den Erfahrungen von Itard mit Victor?
Wie würden Sie mit Victor umgehen? Beschreiben Sie ausführlich!

WICHTIG: Auch die weiter oben notierten Aufgaben gelten als mögliche Klausuraufgaben!!!


Weiterführende Literatur

Koch, F.: Das wilde Kind. Die Geschichte einer gescheiterten Dressur, Hamburg 1997
Malson, L.: Die wilden Kinder, Frankfurt 1972
Thesing, T.: Leitideen und Konzepte bedeutender Pädagogen, Lambertus-Verlag, 1999